Helga Paris Archiv

Heidi Specker

über Helga Paris/about Helga Paris

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Der Alltag war ein bunter Kittel

Die Akademie der Künste in Berlin zeigt Werke der Fotografin Helga Paris. Ihre Künstlerkollegin Heidi Specker wird von den Bildern in ihre Kindheit zurückversetzt. Eine Meditation über Haushaltskittel, die Solidarität von Arbeiterinnen und das Bei-Sich-Sein beim Fotografieren 

Helga Paris' Bilder von den Frauen im Bekleidungswerk Treffmodelle gefallen mir besonders gut. Ich empfinde eine große Sympathie. Für die Fotografien und für die Modelle in den Kittelschürzen. Sie sagen mir etwas und sie erinnern mich an etwas. Ich erkenne mich als Fotografin und ich finde mich als Kind wieder. Ich schreibe diesen Text, während ich in Damme, meiner Heimatstadt im Oldenburger Münsterland, fotografiere. Ein Grund mehr, dass meine Ansichten biografisch vergrößert sind.

Mutter

So lange ich denken kann, trug meine Mutter im Hochsommer einen Kittel. Ärmellos und mit zwei praktischen Einstecktaschen. Dort hatte sie Wäscheklammern, den Hausschlüssel und natürlich ein Taschentuch. Vorne durchgeknöpft und in den unterschiedlichsten Mustern. Geblümt, kleine und große Blumenmuster. Gepunktet, kleine und große Punkte. Fantasiert, kleine und große Abstraktionen. Nur sonntags, wenn Besuch kam, trug sie einen weißen Kittel. Aber der Alltag war ein bunter Kittel, bunt wie der Garten hinterm Haus.

Wenn es heiß war, trug sie darunter nichts, fast nichts. Der Kittel war eine Art Uniform, den sie, wie alle Frauen in der Verwandtschaft oder unter den Nachbarinnen, immer trug. Die Frauen, die ich alle Tante nannte, hatten vor ihrem Namen den gleichen Rang. Tante Maria, Tante Trude, Tante Agnes, Tante Liesbeth. Sie alle trugen einen Kittel und je nach Körper und Alter darunter einen Büstenhalter oder ein Korsett. Als Kind habe ich diesen Zwischenbereich von Kittelstoff, Unterwäsche und nackter Haut mit großer Neugier, aber auch verstohlen beobachtet. Es hatte mit Erotik zu tun, und ist gleichzeitig doch eng mit Arbeit und Alltag verbunden.
Ich schaute ja nicht heimlich durchs Schlüsselloch in das Elternschlafzimmer, sondern bestaunte Achselhaare, wenn die Wäsche aufgehängt wurde, und die Stellen zwischen den Knöpfen, wo die Muster spannten und etwas doch nicht freigaben, wenn meine Mutter sich bückte. Sie hatte auf mich eine weibliche Anziehungskraft, die ich später in den neorealistischen Filmen mit der Italienerin als Mutter, als Frau, als Kämpferin wiederfand.

Andrea Dernbach schrieb 2009 im "Tagesspiegel": "[Sie tragen] die vestaglietta, wörtlich der 'kleine Morgenmantel', die schon dem Buchstaben nach Küche und Bett verknotet. Und der Neorealismo, der den Alltag der einfachen Leute vor die Kamera bringen wollte und dabei zwangsläufig auf den Kittel traf (Luchino Viscontis Kostümbildner konnte sich für Bellissima mit Anna Magnani 1951 seine beschürzten Komparsinnen direkt von der Straße holen), profitierte von dessen Volkstümlichkeit ebenso wie von seinen erotischen Möglichkeiten. Leichter Stoff, nur ein paar Knöpfe und mühelos von vorn zu öffnen."

Vater

Ich war ungefähr so alt wie die Kinder auf den Bildern, die Helga Paris in Berlin-Hellersdorf aufnahm. Auf den Fotografien sind die Jungen und Mädchen alle 13 Jahre alt. Mein Vater arbeitete, so lange er konnte, und fing als Rentner halbtags in einer Schürzenfabrik als Hausmeister an. Bahlmann & Leiber in Damme. Wir fuhren morgens oft gemeinsam mit dem Fahrrad zur Arbeit. Bis zu einer Fußgängerampel, dann ich nach links zum Gymnasium, er nach rechts zur Kittelfabrik. Die Frauen, die bei Bahlmann & Leiber arbeiteten, habe ich mir genau so vorgestellt wie die Frauen aus dem VEB Bekleidungswerk Treffmodelle. Ich bin davon ausgegangen, dass die Näherinnen auf den Fotografien die Kittel tragen, die sie auch nähen. Also bei der Arbeit genau das anhaben, was sie produzieren. Bei Bahlmann & Leiber hat das gestimmt, aber im VEB Treffmodelle wurden schwere Stoffe für Mäntel vernäht.
Um nicht weiter zu spekulieren, habe ich Helga Paris angerufen und in ihrer Berliner Altbauwohnung im Prenzlauer Berg getroffen. Ihre Straße ist gleich um die Ecke des ehemaligen VEB Treffmodelle. Sie empfängt mich sehr freundlich, wir kennen uns, und berichtet, dass sie damals beim Einkaufen in der Kaufhalle auf die Gesichter der Frauen aufmerksam wurde. Diese Frauen kauften dort ein, wo sie arbeiteten, und die Bekleidungsfabrik war gleich nebenan. Diesen VEB kannte Helga Paris schon, sie hatte dort während des Studiums ein Praktikum gemacht und am Band Rücken und Mittelnaht gearbeitet. Es ist eine Gruppe von Frauen, die sie fotografiert. Bemerkenswert, dass auch ältere Frauen Teil der Brigade sind. Viele tragen einen Kittel. Mein Lieblingsbild zeigt eine Frau in einem ärmellosen Kittel aus gepunktetem Stoff. Sie hat beide Hände in den Taschen, die linke Hand ist etwas in Bewegung. Sie wird gerade in die Schürzentasche gesteckt oder im Moment aus der Tasche gezogen. Um die Taille ist eine lose Schleife gebunden. An den Schultern ist der Kittel mit einer weißen Paspelnaht abgesetzt. Ein offenes Gesicht schaut mit einem winzigen Lächeln auf den Lippen direkt aus dem Bild heraus, die Frau steht mir gegenüber.

Es gibt ein zweites Bild, eine Frau in einem geblümten Kittel, das Muster ist aus Rosen. Ihre beiden Hände liegen auf einem Werktisch. In der rechten Hand hält sie einen umgekehrten Bleistift und schaut ebenfalls mit einem leichten Lächeln, ebenfalls der Körper leicht schräg zur Kamera und ebenfalls das Gesicht frontal, als Gegenüber. Beide Frauen tragen die gleiche Frisur. Die erste brünett, die zweite blond. Den kleinen Unterschied, die Variation, macht die individuelle Struktur ihrer Haare.

Meine Frisörin bei Vokuhila in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg hat ihre Ausbildung in der PGH Neuer Weg in Weimar gemacht. Sie hat mir davon erzählt. Vielleicht hatte der VEB Treffmodelle auch eine eigene Haarschneiderin im Betrieb. Die Frisörin der beiden Frauen konnte diesen Schnitt – vorne kurz, hinten lang – entweder besonders gut, oder er war einfach modern. Etwas Unisex, denn ich kann mich als Mädchen, als Teenager an Männer erinnern, die ähnliche Frisuren ... Haaruniformen wie die Frauen hatten.

Bewusstsein

Helga Paris ging es darum, die Gesichter in Ruhe zu fotografieren. Interessant, denn dieses "in Ruhe" bedeutet weniger abseits von den ratternden Nähmaschinen, Helga Paris meinte damit: bei sich sein. Dieser Zustand schafft die unglaubliche Dichte im Bild selbst. "Bei sich sein" meint selbst sein, selbstständig sein, unabhängig von anderen sein. Auch von der Fotografin. Helga Paris berichtet mir von einer unglaublichen Solidarität der Frauen untereinander und dem Gemeinschaftsgefühl der Brigade.

Meine Augen sind bei den Kitteln. Ich frage die Fotografin, ob ein Kleidungsbewusstsein – im Sinne dessen, was Virginia Woolf als "Frock Consciousness" bezeichnete – eine Rolle bei den Aufnahmen gespielt hat. Nein, daran hätte sie nicht gedacht. Aber bei dem Porträt von der blonden Frau denkt Helga Paris immer, dass dieses Modell berlinert. Weeste wat?

La classe operaia va in paradiso

Der Regisseur und Autor Elio Petri, Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens, erzählt in seinem Film "Der Weg der Arbeiterklasse ins Paradies" die Geschichte eines Fabrikarbeiters, der einer anstrengenden, schlecht bezahlten Fließbandarbeit nachgeht. Seinen Körper begreift er, höheren Produktionszahlen nachjagend, als Maschine, die erst durch einen Arbeitsunfall aus dem Takt gerät. Doch auch die Streikbewegung, der er sich anschließt, führt zu Desillusion und Verzweiflung.
Die Interessen, für die er eingespannt wird, ändern sich zeitweise – letztlich bleibt er aber ein Rad im Getriebe. Zumindest trennt sich seine Frau, von Beruf Frisörin, im Laufe der Handlung von ihrer Perücke. Der Film, der 1972 die Goldene Palme in Cannes gewann, kam nie in die westdeutschen Kinos, die einzige deutschsprachige Synchronisation stammt aus der DDR. Die Arbeiterklasse gibt es so nicht mehr, wir befinden uns in einer Dienstleistungsgesellschaft. Kittel wurden durch Jogginghose und T-Shirt ersetzt. Sie haben Wert und Form verloren und werden in fernen Billiglohnländern produziert.
Meine Eltern teilen sich ein Grab, liegen unter der Erde. Aber als gläubige Katholiken und redliche Arbeiter sind sie ganz sicher in den Himmel gekommen. Die 13-jährigen Mädchen und Jungen sind mittlerweile 34. Die Frauen der Nähbrigade VEB Treffmodelle arbeiten heute vielleicht in einer GmbH & Co KG oder in Lebensmittelketten oder gar nicht. Wo ist der Weg ins Paradies?
Heidi Specker: “Apron Awareness”
Text from Journal der Künste 11, Akademie der Künste (Ed.), Berlin 2019

I am especially fond of Helga Paris's pictures of the women in the "Treffmodelle" garment factory. I feel a particular affinity. For the photos, and for the models wearing the apron dresses. They speak to me, and they remind me of something. I recognise myself as a photographer, and I see myself as a child. I write this text while I am taking pictures in Damme, my hometown in the Oldenburger Münsterland, which is one more reason why my views are biographically enlarged.

Mother

As long as I can remember, my mother wore an apron during midsummer. Sleeveless, and with two practical insert pockets, where she kept clothes pins, the house key, and, of course, a handkerchief. Buttoned in the front, and in a wide range of different patterns. Flowered, with flowers big and small. Polka-dotted, with small dots and large ones. Fanciful, with small and large abstract designs. Only on Sundays, when we had visitors, did she ever wear a white apron. The day-to-day outfit was a colourful apron, as colourful as the garden behind the house.
When it was hot outside, she wore nothing, or next to nothing, underneath. The apron was a kind of uniform that she always wore, like all the women among our relatives and in our neighbourhood. The women, whom I called aunt, carried the same rank in front of their names. Aunt Maria, Aunt Trude, Aunt Agnes, Aunt Liesbeth. They all wore an apron and, depending on their body and age, a bra or a corset underneath.

As a child, I looked with great curiosity, but also with a slightly furtive glance, at this interim space between apron fabric, undergarments, and naked skin. lt had much to do with eroticism, and yet was still closely associated with work and everyday life. l was not spying secretively through the keyhole of my parents' bedroom; instead I gazed with wonder at the armpit hair that became visible when the laundry was being hung, at the space between the buttons, where the patterns went taut and yet did not reveal anything, or when my mother bent over. She exerted a kind of female attraction on me, which l later discovered in neo-realistic films that featured the Italian as mother, as woman, as fighter.

"[They wear] the vestaglietta, literally translated as 'little dressing gown', which in its essence was an intertwining of kitchen and bed. And the neorealismo, which aimed to bring the day-to-day life of the simple people in front of the camera, and in the process was inevitably confronted with the apron (Luchino Visconti's costume designer, in the case of the 1951 film Bellissima with Anna Magnani, was able to recruit his aproned extras straight off the street), profited from both its popular appeal and its erotic possibilities. A lightweight fabric, only a few buttons, and easily opened from the front."
Andrea Dernbach, "Der Hausfrauenreport", Der Tagesspiegel, 28 March 2009

Father

I'm thinking of when I was approximately the same age as the children in the pictures that Helga Paris took in Hellersdorf. The girls and boys in the pictures are all 13 years old. My father worked as long as he could, and then, after his retirement, he began a part-time job as janitor in an apron factory: Bahlmann & Leiber in Damme. We would often ride our bikes to work together in the morning, until we reached a pedestrian crossing, at which I would turn left to head to school, and he would turn right to go to the apron factory.
I imagined the women who worked at Bahlmann & Leiber to be just like those at the VEB Bekleidungswerk Treffmodelle (a publically-owned clothing factory). I assumed that the seamstresses in the photographs also wore the aprons they sewed. In other words, that they wore precisely what they produced while they produced it. While this was the case at Bahlmann & Leiber, at VEB Treffmodelle they produced heavy fabric for coats.


Photographer

To avoid more speculation, I called Helga Paris and met her at her old Berlin flat. The street she lives on is right around the corner from the former VEB Treffmodelle factory. She gives me a warm welcome – we know each other – and she tells me that she first came to notice the women's faces while shopping at the department store. The women went shopping in the area where they worked, and the clothing factory was right next door. Helga Paris was already familiar with the VEB, because she had done an internship there during her studies, working on the assembly line for back section and centre seam.
lt is a group of women whom she has taken photographs of. What is striking is that older women are also part of the work brigade. Many of them wear an apron. My favourite photo depicts a woman in a sleeveless apron made out of polka-dotted material. She has both hands in her pockets, the left one slightly in motion. She is either just putting it into her apron packet, or pulling it out at that moment. Around her waist, a loose bow is tied. At the shoulders, the apron is offset with a white edging seam. An open face with a tiny smile on the lips looks straight out of the picture; the woman is standing right across from me.
There is a second picture – a woman in a flowered apron, the pattern made of roses. Both hands are lying on a cutting table. In her right hand she holds a pencil the wrong way around, and she, too, looks out at you frontally, with a slight smile, her body also leaning slightly toward the camera. Both women have the same hairdo. The first one brunette, the second blonde. The small difference, the variation, lies in the individual structure of their hair.
My hairdresser at Vokuhila on Kastanienallee in Prenzlauer Berg did her vocational training at PGH Neuer Weg (a skilled crafts and trade production cooperative) in Weimar. She told me about it. They may have also had their own company hairdresser at VEB Treffmodelle. Either the hairdresser of these two women was particularly good at that haircut – short in the front, long in the back – or it was simply modern. And somewhat unisex, because as a girl, as a teenager, I can remember men with haircuts ... hair uniforms ... that were similar to the cuts worn by those women.

Consciousness

Helga Paris wanted to take photos of the women's faces in a calm state. lnteresting, because “calm” means not so much away from the rattling of the sewing machines; what Helga Paris meant by that was: at ease with themselves. This state creates the incredible density in the picture itself. Being at ease with yourself means being yourself, being self-reliant, being independent of others. And of the photographer as well. Helga Paris told me of an unbelievable sense of solidarity among the women, and of the sense of community that existed within the brigade.
My eyes are on the aprons. I ask the photographer whether an awareness of clothing – in the sense of what Virginia Woolf referred to as “frock consciousness” – played a role in taking the photos. No, she tells me, that did not cross her mind. But when she looks at the portrait of the blonde woman, Helga Paris always imagines this model speaking with a thick Berlin dialect. Weeste wat? [Know what?]

La classe Oparaia va in paradiso

In his film The Working Class Goes to Heaven, Elio Petri, a director and author and member of the ltalian Communist Party, tells the story of a factory worker who toils away in an exhausting, poorly paid assembly line job. He thinks of his body as a machine, always in pursuit of higher production numbers, until an accident on the job throws him off track. The strike movement that he joins, however, also leads to disillusionment and despair. The interests he is encouraged to support change over time – in the end, however, he remains a cog in the machine. Although his wife, a hairdresser by vocation, does at least do away with her wig in the course of the story. The film, which in 1972 won the Golden Palm in Cannes, was never shown in West German cinemas; the only version dubbed into Germ an comes from the GDR.

The working class no longer exists as such, we now find ourselves in a service-based society. The apron has been replaced by sweatpants and a T-shirt. They have lost value and form, and are now produced in distant low-wage countries. My parents share a grave; they lie together in the ground. But as devout Catholics and upstanding workers, they most certainly made it to heaven. The 13-year-old girls and boys are by now 34. Today the women of the sewing brigade VEB Treffmodelle might be working in a GmbH & Co KG company, or in a grocery chain, or not at all. Where is the way to heaven?