Annett Gröschner
Schriftstellerin
Mein Lieblingsbild von Helga Paris war schon an Peter Kahane vergeben. (Er hat als Nachbar von Helga Paris die älteren Rechte.) Es ist Winsstraße mit Taube, das ich liebe wie kein anderes von ihr, vor allem wegen der Taube und weil ich finde, dass es für mich eines der wenigen Fotos ist, das riecht, wenn man draufschaut. Nach verbrannter Kohle, Rauch vom Gaswerk und Zweitaktgemisch mit einem Hauch Pisse und Einkellerungskartoffeln. Beim Zweitliebsten ist es schon schwieriger, es auszuwählen. Ich habe mich für Ramona, Kollwitzstraße, 1982, entschieden, vielleicht auch, weil es in der Zeit entstand, in der ich das erste Mal den Parisschen Raum betrat – um zu bleiben.
Im Moment schaut Ramona einen an vielen Orten der Stadt von Plakaten an und das tut sie immer, ob man sich ihr von links oder von rechts nähert.
Es gibt das Mädchen, es gibt die Wand und es gibt die Kreide auf der Wand. Man könnte auch etwas über die Kleidung sagen, aber die schaut sich weg. Das was Ramona anhat, war auch im Jahr 1982 unter Jugendlichen nicht cool bzw. fetzte es nicht gerade ein. Heute wirkt es zeitloser als alle Moden von damals. Die Kleidung verschwindet in der Wand. Auch weil das Gesicht so leuchtet, ja strahlt, aber nicht, weil das Mädchen lächelt, es strahlt als Person. Da wirkt nichts gestellt. Ramonas Blick ist vertrauensvoll, ein wenig schüchtern und unverletzt. Sie wird nicht in eine Pose gezwungen und zwingt sich selbst auch nicht dazu, wie sie es vielleicht getan hätte, wäre sie von einem Mann fotografiert worden. Oder von jemandem mit einem Auftrag.
Das Vertrauen, das Ramona der Fotografin mit ihrem Blick gibt, zeigt auch den Respekt, die Achtung und die Aufmerksamkeit, die Helga Paris dem Mädchen gegeben haben muss, dass es uns so unbefangen anschaut.
Elke Erb hat geschrieben, dass »die von Helga Paris gegebenen Porträts die Porträtierten aus dem Objekt-Sein erlösen.«* Wir Betrachtenden wissen nicht, in welche Familie Ramona ging, nachdem sie fotografiert wurde. Wir können nur ahnen – oder ist das eine unzulässige Interpretation –, dass sie in eine ging, die vielleicht nicht viel Geld hatte, die aber Ramonas Vertrauen in die Welt nicht oder noch nicht erschüttert hatte.
Unsere Nachbarinnen und Nachbarn von vor 25 oder 40 Jahren waren immer auch Figuren, und hier schließe ich mich ein, unserer künstlerischen Werke. Und das waren keine bürgerlichen Trauerspiele oder hinter schönen Fassaden verborgenes Grauen. Absurd, dass es trotzdem noch diesen Aufwand an geheimdienstlicher Überwachung gab.
Denn alles lag offen da, auch die Gewalt. Es war, als das Bild entstand, erst 37 Jahre her (genauso lange her, wie das Bild von 1982 für uns heute ist), dass Menschen auf der Straße von Granaten zerfetzt lagen und ihre Leichen, oder was davon noch übrig war, in Kellern und Grünanlagen zwischengelagert waren, wenige Jahre, nachdem andere abgeholt und ihre Wohnungen ausgeräumt worden waren. (An Helgas Haus hängt eine Tafel für Hans Rosenthal.)
Das Kaputte verband die Bewohner der Nachkriegszeit mit der Vergangenheit, erinnerte sie beständig daran, auch wenn die Älteren selten darüber redeten. Und so ist auch die Wand hinter Ramona nicht einfach nur grau.
Der Putz oder was davon geblieben ist, bildet in meiner Phantasie eine Landkarte, es könnte eine Stadt von oben gesehen sein, die Straßen hell erleuchtet, die breitesten führen zu einem See. Als mein Gegenüber noch ein Haus mit gebrechlicher Fassade war, konnte ich, eigentlich zum Schreiben verdonnert, stundenlang die Fassade betrachten. Die Abstraktionen von Figuren, die Brüche, Verluste und Verletzungen erzählten die wildesten Geschichten. Auch die Fassade vor Ramona lädt dazu ein.
Das Bild von Ramona und ihrem Zuhause erinnert mich an ein anderes, das einer Malerin, die nur ein paar Straßen weiter ihr Ladenatelier hatte und mit deren Werk ich mich in diesem Jahr länger beschäftigt habe.
Das Gemälde heißt Madonna vom Prenzlauer Berg und wurde 1974 von Annemirl Bauer gemalt, es steckte im Rahmen eines Gründerzeitspiegels, der beim Spiel der Tochter kaputt gegangen war. Sie war eine Malerin, die 1989 mit nur 50 Jahren starb, nachdem ihr von den staatlichen Stellen übel mitgespielt worden war. Auch sie hatte die Menschen um sich herum zum Thema ihrer Bilder gemacht. Und die Bedingungen, unter denen sie hausten.
Im Mittelpunkt des Bildes ist eine Schwangere, viel zu jung, um Mutter zu sein. Ein Mädchen, fast Kind noch, aus der Nachbarschaft. Die Madonna saß in einer städtischen Landschaft ohne Grün, vor grauen Häusern, Verbotsschildern und Müllautos, am Horizont kein Himmel, sondern ein Soldat an einem Schlagbaum. Den Rahmen aber bildet eine ideale Landschaft.
Die Madonna hat einen ähnlichen Blick wie Ramona. Beide vertrauen der Person, die sie abbildet. Da kam nicht nur jemand von außen vorbei, schaute sich kurz um, machte sich ein Bild und ging wieder, sondern, es waren die Nachbarinnen mit den seltsamen Berufen. Helga Paris und auch Annemirl Bauer lebten mit den von ihnen Dargestellten und mussten sich auch stellen, wenn dem Subjekt das Bild von sich nicht gefiel. Die Bilder zeigen: Es gibt keine einfachen Menschen. Sie sind ein Konstrukt derer, die sich als die besseren fühlen.
Letzte Woche saß ich mit einer Bekannten, Simone Schmollack, in den Berliner Bürgerstuben in der Stargarder Straße, eine Kneipe ganz wie für Helga gemacht, mit einer Bedienung, die Conny heißt, und Bauernfrühstück und Königsberger Klopsen auf der Karte. Simone erzählte, dass sie mit Helgas Tochter zusammen in einer Klasse war und Jenny dafür bewunderte, dass sie so gut Münder malen konnte. (Wovon man sich selbst überzeugen kann auf dem Foto “Selbst im Spiegel” von 1971, wo der Spiegel ein säkularer Herrgottswinkel ist.) Manchmal war sie mit in Jennys Wohnung und fasziniert von den Gemälden des Vaters und den Fotos der Mutter. Sie machten zusammen Mathehausaufgaben. Bei Erfolg wurde von Helga Paris eine Stulle mit Butter und geriebener Schokolade in Aussicht gestellt. Simone hatte so einen Jieper nach der geriebenen Schokolade, dass sie das machte, was wir damals klieren nannten. Aber Helga Paris war streng. Sie musste noch einmal alles abschreiben, ehe sie die Schokoladenstulle bekam. Eine Mathematikerin ist nicht aus ihr geworden, aber eine gute Journalistin.
Kommen wir zur Kreide. Was mir erst beim Wiedersehen mit dem Bild auffiel. Über Ramona steht neben dem Wort DOOF auch noch 1. FCU. Erster FC Union, die Mannschaft der Underdogs, der Dagegenberliner, der Schlosser. Den Namen der Lieblingsfußballmannschaft mit Kreide an die Wände krakeln, war nicht wirklich verboten, eher als Ordnungswidrigkeit angesehen und in Prenzlauer Berg kaum verfolgt, wenn man nicht gerade RAF an die Wände malte. Oder irgendwas mit Mauer oder Biermann. Kreide ließ sich leicht besorgen, wenn man die Schule nicht schwänzte. Anders war es, wenn Farbe ins Spiel kam: Helga Paris‘ Sohn Robert sprühte mit einer Freundin in der Nacht zum 13. August 1981, also ca. ein Jahr vor Ramona, barfuß und ein wenig betrunken, an die Blechbrüstung der Greifenhagener Brücke in roter Farbe den Satz: »Wir sind langsam sauer – 20 Jahre Mauer«, das heißt, sie wollten es, kamen aber nur bis Mau... Das brachte ihnen Untersuchungshaft ein.
Heute gibt es kein Union-Graffiti mehr in der Kollwitzstraße. Als Union in diesem späten Frühjahr 2019 in die Bundesliga aufstieg, blieb in Prenzlauer Berg alles still, während weiter östlich hinter der Ringbahn die Luzie abging und der Bär tanzte. Das war das deutlichste Zeichen, dass sich dort in den letzten 30 Jahren fast alles verändert hat. Die nun dort wohnen, hängen anderen Mannschaften an, mit mehr Geld und anderer Heimat. Diese Welt ist versunken, im Guten wie im Schlechten. Ein Müllfahrer und eine Verkäuferin nebst Kinder könnte sich eine ausreichend große Bleibe in der Winsstraße längst nicht mehr leisten, die heute zu einem Wert auf dem Markt ist, den früher nicht mal das ganze Viertel hatte.
Es bringt heute andere Geschichten hervor, unter jeder Menge Dämmstoff verborgen.
* Inka Schube (Hg.) für das Sprengel Museum Hannover: Helga Paris – Fotografien, Hannover 2004, S. 293
Annett Gröschner
Writer
Peter Kahane had already been given my favorite photo by Helga Paris. (As her neighbor he had rights of seniority.) The photo is Winsstraße with Dove, which I love like none of her other works. Especially because of the dove, and because for me it is one of the few photos that smells when you look at it – like burnt coal, the smoke from the gas plant and the mixture of a two-stroke engine with a trace of piss and potatoes in the cellar. When it comes to my second favorite it is somewhat more difficult to make a selection. I chose Ramona, Kollwitzstraße, 1982, perhaps also because it was created at the time when I first entered the Parisian space – and remained...
At the moment Ramona looks at you from posters at the many places in the city – she always does, whether you approach her from the left or from the right.
There is the girl, there is the wall, and there is the chalk on the wall. You could also say something about her clothes, but they disappear. What Ramona is wearing wasn’t cool among teenagers even in 1982; or rather, it didn’t exactly catch on. Today it seems more timeless than all the fashions of the time. The clothes disappear into the wall. Because the face is also so radiant, in fact shines – but not because the girl smiles, she shines as a person. Nothing seems contrived. Ramona’s gaze is trusting, a little shy and unspoiled. She is not forced into a pose, nor does she force herself, as she might have done had she been photographed by a man – or by someone with an agenda.
The trust that Ramona puts in the photographer with her gaze also shows the respect, the esteem and the attention that Helga Paris must have shown toward the girl in order for her to look at us so unselfconsciously.
Elke Erb wrote that “the portraits created by Helga Paris save those portrayed from becoming objects.”* We viewers do not know the family that Ramona returned to after she was photographed. We can only guess – or perhaps this is an inadmissible interpretation – that she returned to one that perhaps didn’t have much money, but had not, or had not yet, shaken Ramona’s confidence in the world.
Our neighbors of 25 or 40 years ago were also always figures, me included, of our artistic works. And these were not bourgeois tragedies or horrors hidden behind beautiful facades. How absurd that there was still this amount of surveillance by the secret service.
After all, everything was out in the open, including the violence. When the picture was taken, it was only 37 years ago (just as long ago as this image from 1982 is for us today) when people were lying on the street torn apart by grenades and their corpses, or what was left of them, were temporarily stored in cellars and green spaces, a few years after others had been taken away and their apartments emptied. (A plaque for Hans Rosenthal hangs on Helga’s house.)
What was ruined connected the residents of the post-war period with the past; constantly reminding them of it, even if the older people rarely talked about it. And thus the wall behind Ramona is not simply gray.
The plaster, or what remains of it, forms a map in my imagination; it could be a city seen from above, the streets brightly lit, the widest leading to a lake. As the house opposite me still had a frail facade I, who was actually condemned to write, could spend hours looking at it. The abstractions of figures, the fractures, losses and injuries told the wildest stories. The wall behind Ramona invites one to do the same.
The image of Ramona and her home reminds me of another, one by a painter who had her store studio just a few streets away and whose work I spent more time with this year.
The painting is called Madonna of Prenzlauer Berg and was done by Annemirl Bauer in 1974. It was stuck in the frame of a Gründerzeit mirror that broke when her daughter was playing. She was a painter who died in 1989 at the age of only 50, having been badly treated by the state authorities. She, too, had made the people around her the subject of her paintings. And the conditions under which they lived.
In the center of the picture is a pregnant woman, much too young to be a mother. A girl, almost still a child, from the neighborhood. The Madonna sat in an urban landscape without greenery, in front of gray houses, prohibition signs and garbage trucks, without a sky on the horizon, but a soldier at a barrier. Yet the frame is an ideal landscape.
Madonna has a look similar to Ramona. Both trust the person depicting her. It wasn’t just someone from outside who came by, looked around briefly, took a picture and left again; but rather, they were the neighbors with the strange professions. Helga Paris and Annemirl Bauer lived with those they portrayed and also had to face up when the subject was not happy with this representation of themselves. These images show that there are no simple people. The latter are merely a construct of those who feel they are better than others.
Last week I sat with an acquaintance, Simone Schmollack, in Berliner Bürgerstuben at Stargarder Straße, a pub made just for Helga, with a waitress named Conny, and farmer’s breakfast and Königsberger Klopsen – German meatballs in caper sauce – on the menu. Simone explained that she had been in a class with Helga’s daughter and admired Jenny for being so good at drawing mouths (This is evidenced in the 1971 photo “Self in the Mirror”, where the mirror represents a secular domestic shrine). Sometimes she would tag along to Jenny’s apartment, fascinated by her father’s paintings and her mother’s photos. They did their math homework together. Helga Paris promised them a sandwich with butter and grated chocolate if they completed their assignments. Simone had such a craving for the grated chocolate that she ended up just scrawling anything. But Helga Paris was strict. Simone had to copy everything again before she got her chocolate sandwich. She didn’t become a mathematician, but a good journalist instead.
Let’s go on to the chalk. Something I noticed only when I saw the picture again. Above Ramona, next to the word STUPID, there is also First FCU. Football Club Union Berlin, the team of the underdogs, the dissenting Berliners, the metalworkers. Scrawling the name of one’s favorite soccer team on the walls with chalk was not really forbidden, but instead considered a misdemeanor and hardly prosecuted in Prenzlauer Berg – unless one painted RAF on the walls or something with the Wall or Biermann. Chalk was easy to get if you didn’t skip school. But it was different when paint came into play: On the night of August 13, 1981, about a year before Ramona, Helga Paris’ son Robert, barefoot and a little drunk, sprayed the phrase “We’re almost ready for a brawl – 20 years of the Wall” in red paint on the sheet metal parapet of the Greifenhagen Bridge. That is, they wanted to, but did not get to complete the word Wall ... That got them remanded in custody.
Today there is no more Union graffiti at Kollwitzstraße. When Union was promoted to the German premier league in the late spring of 2019, everything remained quiet in Prenzlauer Berg, while further east behind the Ringbahn the place was hopping and everyone was having a blast. That was the clearest indication that almost everything had been transformed there in the past 30 years. Those who live there now are loyal to other teams, with more money and other backgrounds. This particular world has been lost, for better or worse. It has been a long time now since a garbage man and a saleswoman together with their children were able to afford a sufficiently large place to live in Winsstraße – which is now on the market at a price that even the whole neighborhood did not have in the past.
Today it brings forth other stories, hidden under any amount of insulating material.
Inka Schube (ed.) for Sprengel Museum Hanover: Helga Paris – Photographs, Hanover 2004, p. 293